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Ikaros

Oh großer Minos laßt uns ziehen
War Euch bisweilen Untertan
Schuf mannig‘ Werk‘ die Euch gefielen
Entlaßt uns Eurem bösen Wahn.

Gefangen in der Dunkelheit
In Gängen die Vater einst erbaut
Wo kein Mensch mehr finden kann
Den rechten Weg hinaus.
Was zuvor erdacht zum grausig‘ Spiele
Hält nun den Schöpfer gnadenlos.
Entfreit vom Herrscher Kretas Launen
Darbt Daidalos mit seinem Sohn.

Ich werd‘ aus Federn Flügel bauen
Mein Ikaros für dich und mich.
Vom Himmel werden wir dann schauen
Das Volke drunten wundert sich.

Er schickt sich an in dem Verliese
Klaubt Federn haufenweis‘ zusammen
Schafft Wachs in großen Töpfen an
Und sammelt Holz und Fäden.
Gefaßt steht Ikaros zugegen
Sieht die Konstruktion entstehen
Sein Vater bindet und verwachst
Die Federn auf ein Holzgestell.

Ach blick‘ er an – Ikaros schau!
Vollendet ist nun bald mein Tun
Angepaßt dem Vogel Körperbau
Könn’n künftig schon in Freiheit ruh’n.

Die letzten Griffe rasch vollbracht
Schließt Daidalos die Arbeit ab.
Die Flügel ihrer Freiheit Hoffnung
Bestaunt er voller Herzensstolz.
Legt heimlich kurz die Schwingen an
Bewegt die Arme auf und ab
Stößt zum Himmel sanft hinauf
Entfliegt für einen Augenblick.

Es ist getan was werden sollte
Ikaros! Wir können schwinden.
Bald treiben was man immer wollte
Sind bereit das Glück zu finden.

In die Luft hinauf – empor
Zieht es Ikaros und seinen Vater
Bis zu den Wolken hoch hinan
Ihr Antlitz nimmt kaum jemand wahr.
Ikaros ganz unbehende
Suhlt sich im Glanz der Freiheit Glück
Will letztlich gar die Sonne fassen
Stößt sehr weit gen Himmel vor.

So gebe acht – flieg‘ nicht zu hoch
Gar heiß ist uns_rer Sonne Schein
Die Flügel werden nicht mehr halten
Sollt‘ das Wachs geschmolzen sein.

Den Rat des Vaters am verstehen
Sinkt Ikaros im Gleitflug sanft
Fühlt sich ungebunden wie ein Vogel
Vergessen die Erinnerung.
In Gedanken schwebt er tiefer
Kommt dem Wasser dabei nah‘
Hört das Wogen hoher Wellen
Ist in einem Rausch gefallen.

Nicht zu tief mein Ikaros
Die Wellen ziehen Dich hinab
Poseidon hat ein Aug‘ auf Dich
Fliege hoch – so hör auf mich!

Fast gänzlich seiner Sinn‘ beraubt
Befolgt Ikaros den weisen Spruch
Doch wie durch Zauber angezogen
Steigt er erneut zur Sonne Glut.
Langsam schmilzt das Wachs der Flügel
Die weißen Federn lösen sich
Und Ikaros so wie betrunken
Hört des Vaters Rufe nicht.

Hör‘ meine Schreie – die da tönen
Schon ist versengt das Federkleid
Durch den Leichtsinn Deiner Tat
Wirst Du ins Reich der Fische fallen!

Unaufhaltsam schmilzt das Wachs
Zersprengt sind alsbald die Fittiche
Und wie ein Stein am Firmament
Stürzt Ikaros ins Meer herunter.
Die Wellen spielen mit dem Leib
Taucht aus dem Wasser auf und ab
Wird schließlich reglos und verschliessen
An einer Insel Strand gespült.

Mir ahnte es – es ist geschehen
Geteilt sind Vater nun und Sohn
Konnt‘ er dem Fingerzeig nicht folgen?
Jetzt ist er ewig von mir fort!

Mit traurig‘ Blicken sinkt er nieder
Zum weißen Strand der Todesinsel
Hält weinend sanft des Sohnes Hand
Läßt seinen Kummer sichtbar werden.
Streift dann darauf die Flügel ab
Schaufelt hernach ein tiefes Grab;
Bettet seinen Sohn darin
Nimmt Abschied brüsk mit tausend Worten.

Nun liegst Du hier in Gaias Schoß
Vor Mißbrauch Dich die Erde schützt;
Unser aller beider Träume
Sind arge unserm Ziel entrückt.

Oh Iphinoe kann ich’s tragen
Nur Deiner kurzen Laune wegen
Laß mich treiben bis ans Ziel
Sizilien wird mich heut‘ noch sehen.